
Es gibt immer einen guten Grund… oder zwölf.
Nämlich wenn es um Sexuelle Bildung geht. Wir sind uns sicher, viele sind euch nicht neu – andere vielleicht schon und einige waren möglicherweise gar nicht am Radar, wenn es darum geht, über Sexualität zu sprechen.
Viele Menschen starten das neue Jahr mit einer Liste an guten Vorsätzen. Wir starten 2018 mit einer Liste von Dingen, die uns am Herzen liegen. Ihr ahnt es wahrscheinlich schon, es geht um Sexuelle Bildung. In den kommenden Jahren haben wir die Ehre, uns nicht nur vor Ort in der Praxis mit der Notwendigkeit unseres Tuns auseinander zu setzen, sondern auch auf theoretischer Ebene mit Partnerorganisationen gemeinsam daran zu arbeiten, wie Sexuelle Bildung überall gelingen bzw. vermittelt werden kann. Und da wären wir schon beim ersten Grund:
#1 Worte geben, wo Worte fehlen
Auch wenn uns auf vielen Plakatwänden ein Busen entgegenspringt: Über Sexualität zu sprechen, sind wir kaum gewohnt. Bis Ende der 1960er Jahre wurde das Thema Sexualität in den Schulbüchern stark gemieden, auch danach kam es nur spärlich vor. Mittlerweile ist es zwar im Lehrplan verankert, aber trotzdem fehlt es vielen Lehrpersonen und Eltern schwer, die richtigen Worte zu finden. Der Grund ist einfach: In keiner einzigen pädagogischen Ausbildung von der Elementarpädagogik bis zum Biologiestudium fürs Lehramt spielen Liebe, Beziehung und Sexualität eine Rolle. Auch Eltern fühlen sich mit der Thematik oft allein gelassen. Die Brücke zwischen Fachbegriffen und Alltagsvokabular zu finden, ist gar nicht so einfach. Viele Kraftausdrücke, die von Jugendlichen in den Klassenraum geworfen werden sind nicht nur ein ausloten von Grenzen, sondern auch oftmals offene Fragen, auf die verzweifelt eine Antwort gesucht wird. Wie damit umgehen? Sexuelle Bildung kann weiterhelfen.
#2 Gefühle benennen
Es mag total überraschen, aber die Fähigkeit Gefühle zu benennen ist eine der wichtigsten Kompetenzen, die Menschen für ihre emotionale Gesundheit erlangen können. Sie hilft uns dabei unsere eigenen Grenzen wahrzunehmen und ziehen zu können, leistet damit einen grundlegenden Baustein für die Prävention sexualisierter Übergriffe und der Entwicklung einer gesunden Sexualität. Genau bei den Gefühlen setzt z.B. auch Sexuelle Bildung in der Elementarpädagogik an. Lernen wir unsere und die Gefühlswelt anderer in frühen Jahren ausreichend kennen, tun wir uns als Erwachsene wesentlich leichter, einfühlsam zu sein und zu verstehen, was Konsens bedeutet, und wo die Grenze zwischen JA und NEIN liegt.
#3 Bienen und Blumen sind nicht alles
Wie schwer kann Aufklärung sein? Penis in Vagina und damit ist doch alles erklärt? Nicht ganz. Sexualität und Fortpflanzung sind erstens nicht zwingend dasselbe. Zweitens interessieren sich Kinder und Jugendliche brennend für die Vielfalt ihrer Körper, was sie bedeutet, wann sich was zu verändern beginnt und ob das jemals aufhört, wie Zwillinge entstehen, was Intergeschlechtlichkeit ist, warum Behinderungen entstehen und wie so ein Baby aus einem Körper tatsächlich raus kommt. Allein über die Anatomie der Körper und alle körperlichen Vorgänge, die mit Sexualität in Zusammenhang stehen, lässt sich stundenlang sprechen. Das tun wir in sexualpädagogischen Workshops übrigens auch 😉
#4 Wie ist das eigentlich mit der Liebe?
Könnt ihr euch noch an die ersten Schmetterlinge im Bauch erinnern? An das erste Mal verliebt sein? An die Aufregung und das große Fragezeichen, wie denn der angehimmelten Person am besten mitgeteilt werden kann, dass das Herz bei ihrem Anblick ganz schnell zu schlagen beginnt? Kinder und Jugendliche kichern heute noch ganz genauso wie vor zehn oder zwanzig Jahren, machen sich Gedanken über Beziehungen und Familie, überlegen sich, welche Werte für sie wichtig sind und was diese genau bedeuten. Weil die Familien aus denen sie selbst kommen genauso vielfältig sind, wie eben die Gesellschaft ist, gibt es viele unterschiedliche Erfahrungen und Erwartungen, oft aber auch ähnliche Sehnsüchte. Auch das sind Themen der Sexuellen Bildung, weil sie für die Lebensrealität von Jugendlichen eine immens große Rolle spielen.
#5 Verantwortungsvolle Verhütung
Wusstet ihr, dass es aktuell an die 25 verschiedene Arten gibt, um zu verhüten? Bis auf zwei (Vasektomie und Kondom) werden alle nur von Frauen angewandt. Bis auf drei (Kondom, Femidom, Lecktuch) schützt keine vor Geschlechtskrankheiten. Einige erfordern ärztliche Eingriffe, einige sind an relativ viel Eigenverantwortung geknüpft. Manche wirken ziemlich sicher, manche wirken in Kombination mit anderen Medikamenten gar nicht. Und ein paar wenige unterstützen dabei, den weiblichen Zyklus besser zu verstehen. Zu jeder einzelnen Methode gibt es viel zu erfahren, viele Fragen bei Gynäkolog*innen zu stellen und wichtige Tipps zur Anwendung, die Fehler vermeiden können. In unterschiedlichen Lebenslagen passen unterschiedliche Methoden besser. Eine umfassende und neutrale Information über Verwendung, Risiken und Möglichkeiten bei Verhütungspannen kann bei der persönlichen Entscheidung unterstützen.
#6 Ist mein Körper eigentlich normal?
Sobald die Schwelle der Pubertät überschritten wird, fragen sich die meisten Menschen irgendwann im Leben, ob dieses oder jenes an ihrem Körper eigentlich normal ist, dem Durchschnitt entspricht, sich noch auswächst oder wieder vergeht. Ständig sind wir mit unserer Hülle beschäftigt. Im Sommer wird sie nochmal mehr für andere sichtbar. Wir vergleichen uns und oft führt dieser Vergleich zu Unwohlsein, Scham oder gar zum Verstecken und Verhüllen. Dabei sind wir alle so wunderbar unterschiedlich und vielfältig. Durch die Präsenz von Medien verlieren wir jedoch oft den Blick für diese Vielfalt in der Realität und eine Unzufriedenheit macht sich breit. Im Rahmen von sexualpädagogischen Workshops ist der Realitätscheck zum Körper ein absolutes Kernthema, um einen gesunden Umgang mit sich zu finden.
#7 Was ist eigentlich schön?
Nicht nur die Normalität ihrer Körper beschäftigt die Menschen, sondern auch, wie sie von anderen bewertet werden. Und ganz ehrlich, wer möchte nicht attraktiv für jemand anderen sein, begehrt und geliebt werden. Jugendliche, Menschen mit Behinderungen oder ältere Personen sind da keine Ausnahme. Liebe und Sexualität hat in fast jedem Lebensabschnitt Saison und somit auch die Frage, was eine*n denn eigentlich schön macht. Im Laufe der Geschichte aber auch über den nationalen Tellerrand hinaus lässt sich beobachten, dass Schönheitsideale sich stetig wandeln – genauso wie Modetrends. Außerdem, wenn wir ganz genau hinhören, sind die Geschmäcker und Vorlieben der Menschen, genauso verschieden wie ihre eigenen Körper. Darüber lässt sich prächtig diskutieren im Rahmend der Sexuellen Bildung.
#8 Mit peinlichen Situationen umgehen
Nicht nur dass Sexualität schon generell ein Tabuthema für viele Menschen ist, sie eröffnet uns auch immer wieder scheinbar unmögliche Situationen. Da wären Blutflecken auf Kleidungsstücken bei menstruierenden Personen, Erektionen in unpassendsten Momenten, freudsche Versprecher, die Herausforderungen für küssende Brillenträger*innen, unabsichtliches Furzen in romantischen Momenten – es gibt so viel was passieren kann abseits der geglätteten Hollywoodromanze mit Kerzenschein, Kaminfeuer und Rosenblättern am Bett oder den High-Tech-Hochleistungspornos. Darüber zu sprechen und zu lachen, kann irrsinnig entlastend sein. Wir sind doch alle nur Menschen.
#9 Man kann nicht nicht sexuell bilden
Die Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawik prägte den Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Und weil Bildung
nun eben auch eine Form von Wissensvermittlung – sprich Kommunikation ist, können wir auch nicht nicht sexuell bilden. Egal ob es darum geht, welche andren Mütter auch schöne Söhne oder Töchter haben, wer die Farbe rosa anziehen soll und wer nicht, wie wir zu #metoo-Debatte stehen, wem wir eher ein Kompliment zu seiner Kleidung geben, ob wir laut im Café das Wort Sex aussprechen, welche Wörter wir bei Kindern verwenden, um ihre Genitalien zu benennen und wie relaxt wir mit dem Kauf von Kondomen und Tampons umgehen – in jedem Fall zeigen sich Haltungen und Werte zu Themen, die mit Sexueller Bildung zu tun haben und wir geben diese ob wir wollen oder nicht ganz nebenbei weiter. Sexuelle Bildung ist also eigentlich immer präsent.
#10 Sexuelle Bildung passiert rund um uns
Egal ob in Zeitschriften, auf youtube, instagram oder snapchat, in Pornoclips, auf Netflix oder im Kino, auf facebook oder in der Zeitung – Beziehungsformen, Liebe, Sexualität, Familie, Körperbilder und Schönheitsideale kommen in unterschiedlichsten Ausprägungen überall vor. Sie spiegeln oft Klischees, bestimmte Rollenbilder und Ideale wieder. Nicht immer ist für die Konsument*innen deutlich, was Realität ist, was unter Fake News fällt, was strafbar ist oder schlichtweg kommerzielles Interesse. Dies betrifft den Umgang mit dem Versenden von Nacktbildern genauso, wie die fälschliche Interpretation von Pornographie, Liebesdramen, Youtube-Channels als „reale, authentische“ Begebenheiten ohne Drehbuch. Wo beginnt die Wirklichkeit und wo hört sie auf in einer Welt, in der digitale Medien Teil unserer Realität sind?
#11 Menschen sind verschieden
Sexuelle Bildung denkt nicht nur an Menschen mit unterschiedlichen Beziehungsformen, Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Vielfältig sind Menschen auch, weil sie unterschiedlich alt sind, unterschiedliches erlebt haben, vom Land kommen oder aus der Stadt, verschiedene Schulen besucht haben oder in verschiedenen Ländern gelebt haben. Manche bringen Fluchtgeschichten mit, andere wiederum unterscheiden sich stark im Aussehen von den Menschen rings um sie herum. In manchen Familien wird viel und offen über Sexualität und Liebe gesprochen, in anderen wiederum ist das gar kein Thema. Manche Menschen verfügen über körperliche und/oder geistige Beeinträchtigungen und haben überhaupt noch nie bewusst über Sexualität und persönliche Grenzen nachgedacht. Andere wiederum sehr viel. Die Vielfalt der Menschen bringt Herausforderungen und Potentiale mit. Damit umzugehen macht uns Spaß. Wir sprechen uns daher für eine Sexualpädagogik der Vielfalt aus.
#12 Wo Licht ist, ist auch Schatten
Wir sehen Sexualität als etwas Positives, etwas Schönes, Bereichnerndes – als lebensumspannendes Thema in all seinen Facetten an. Wenn wir Sexualität als Ganzes in den Blick nehmen, dürfen wir unsere Augen auch vor den Schattenseiten nicht verschließen. Sexuelle Bildung bedeutet auch, über Grenzen zu sprechen, über Gewalt, komische Gefühle, die sich schwer einordnen lassen, über traumatische Erfahrungen und vor allem über Konsens und Prävention. Wie können Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Übergriffen vorbeugen und die auffangen, wenn doch etwas passiert? Wie können wir unsere Widerstandsfähigkeit stärken, auf unsere persönlichen Ressourcen achten und Menschen unterstützen, deren Grenzen verletzt worden sind?
Zwölf gute Gründe für Sexuelle Bildung sind das. Wir sind sicher: Es gibt noch viele mehr. Aber mit genau diesen wollen ihr euch 2018 durchs Jahr begleiten und viele spannende und diskutierenswerte Blogartikel dazu liefern. Wir freuen uns schon auf einen regen Austausch.
Let´t talk about… ganz #unaufgeregt